Scheinbar “heilbare” Unklarheiten in einem Angebot dürfen nicht per Aufklärung bereinigt werden, wenn dadurch erst die inhaltliche Festlegung des Angebots entsteht. In solchen Fällen ist das Angebot nicht wertbar. Ein zwingender Ausschluss folgt daraus aber nicht automatisch – besonders dann nicht, wenn die Unklarheiten auch aus den Vergabeunterlagen herrühren. Konsequenz: Das Verfahren ist in den Stand vor Abgabe der finalen Angebote zurückzuversetzen, damit alle Bieter eindeutige, vergleichbare Angebote abgeben können. Das stärkt Transparenz und Gleichbehandlung, kostet aber Zeit. Die Tragweite der Entscheidung betrifft vor allem Verhandlungsverfahren und lässt sich nicht ohne Weiteres auf andere Verfahren übertragen. (Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss v. 05.08.2025, Az.: Verg 2/25e).
Der Sachverhalt
Ausgeschrieben war ein europaweites Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb zur Errichtung und zum Betrieb eines einheitlichen Bikesharing-Systems – getragen von mehreren Kommunen und Verkehrsunternehmen. Ziel: ein flächendeckendes Netz moderner Mieträder (GPS, Geofencing, ÖPNV-Integration).
Besonders im Fokus standen zwei fördermittelgebundene Teilprojekte. Für Eigentumsmieträder war ein Systemstart bis 31.12.2024 vorgesehen; die übrigen Regionen sollten bis September 2025 folgen. Nach § 23 Abs. 3 des Betreibervertrags mussten Eigentums- und Auftragnehmermieträder gleicher Bauart und Ausstattung sein.
Im Laufe des Verfahrens wurden die Unterlagen mehrfach nachgeschärft (Technik, Integration etc.). Der Streitpunkt: Müssen zwingend Räder der vierten Generation eingesetzt werden?
Im August 2024 reichten die Bieter ihre finalen Angebote ein. Das Angebot der Beigeladenen war deutlich günstiger. Die Vergabestelle klärte den Preis auf und hielt ihn für plausibel. Mit Vorabinformationsschreiben nach § 134 GWB erhielt die Antragstellerin die Absage – sie rügte u.a., die Unterlagen verlangten die neueste Generation. Unklar blieb, ob die Beigeladene Räder der dritten oder vierten Generation angeboten hatte; Bilder verschiedener Modelle ohne eindeutige Zuordnung nährten die Zweifel. Die Vergabekammer Südbayern ordnete eine Angebotsaufklärung an. Dagegen legte die Antragstellerin Beschwerde ein und beantragte zugleich die Verlängerung der aufschiebenden Wirkung (§ 173 Abs. 1 S. 3 GWB).
Die Entscheidung
Die sofortige Beschwerde hatte teilweise Erfolg. Der Senat änderte die Entscheidung der Vergabekammer in einem zentralen Punkt:
- Keine Angebotsaufklärung: Das Angebot der Beigeladenen sei bei objektiver Auslegung bereits eindeutig – allerdings im Sinne eines Übergangsszenarios: 2024 Räder der dritten, ab 2025 Räder der vierten Generation. Diese Lesart stützten sowohl die Angebotsunterlagen als auch Verhandlungsprotokolle, die ausdrücklich einen Übergang thematisierten.
- Aber: Das Angebot war nicht wertbar. Weil die Angebotsunterlagen widersprüchliche Signale senden (Bilder verschiedener Generationen ohne eindeutige Festlegung), fehlt es an der Bestimmtheit. Eine Aufklärung würde hier nicht bloß erläutern, sondern nachträglich den Inhalt ändern – unzulässig.
- Keine sofortige Ausschlussfolge: Die Unklarheiten hängen auch mit unzureichend präzisen Vergabeunterlagen zusammen. Folge: Rückversetzung des Verfahrens in den Stand vor Aufforderung zur Abgabe der finalen Angebote. Alle Bieter dürfen neue, eindeutige Endangebote abgeben.
Rechtliche Einordnung
1) Grenzen der Aufklärung (§ 56 VgV) und Angebotsänderung (§ 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV)
Aufklärung dient der Klarstellung, nicht der inhaltlichen Nachbesserung. Weisen Angebote substanzielle Widersprüche auf (hier: parallele Hinweise auf Fahrrad-Generation 3 und 4), fehlt es an Eindeutigkeit. Eine Aufklärung würde die Reichweite der Leistung nachträglich festlegen – das ist eine unzulässige Angebotsänderung. Praxisrelevanz: Auftraggeber müssen scharf trennen zwischen formalen Klärungen (z.B. fehlende Unterschrift, Rechenfehler) und inhaltlichen Unstimmigkeiten. Letztere machen ein Angebot unverwertbar.
2) Rückversetzung statt Ausschluss
Bemerkenswert ist die Verantwortungszuteilung: Wenn Unklarheiten (auch) aus den Vergabeunterlagen stammen, dürfen sie nicht allein dem betroffenen Bieter angelastet werden. Die Rückversetzung sichert Transparenz und Gleichbehandlung, verhindert aber kurzfristige Zuschläge und verzögert das Verfahren. Das passt vor allem zu Verhandlungsverfahren, in denen Inhalte naturgemäß fortentwickelt werden; auf andere Verfahrensarten ist die Lösung nicht automatisch übertragbar.
3) Preisaufklärung und Referenzen – weiter Beurteilungsspielraum
Bei der Preisprüfung zählt, dass die Vergabestelle die Plausibilität nachvollziehbar prüft; eine vertiefte Wirtschaftlichkeitskontrolle findet nicht statt. Auch die Referenzbewertung bleibt Sache der Vergabestelle, solange sie die selbst gesetzten Kriterien konsequent anlegt und rechtsfehlerfrei bleibt. Nachprüfungsinstanzen sind keine „Super-Vergabestellen“.
4) Fördermittel, Zeitdruck und § 23 Abs. 3 Betreibervertrag
Fördermittelvorgaben (Start zum 31.12.2024) und die Pflicht zur Gleichartigkeit der Räder (§ 23 Abs. 3) erzeugten Übergangsszenarien: erst ältere Räder, später Umstieg. Die Unterlagen sagten aber nicht klar, ob und wie ein Übergang (Nachrüstung, Austausch, gestreckter Wechsel) zulässig sein sollte. Solche Lücken erhöhen das Angriffsrisiko wegen Intransparenz. Wer Förderlogik und technische Vorgaben nicht konsistent verzahnt, riskiert genau solche Rückversetzungen.
Praxistipps für öffentliche Auftraggeber
- Eindeutigkeit vor Tempo: Technische Anforderungen konkret formulieren (Normen, messbare Leistungsmerkmale, eindeutige Funktionsbeschreibungen).
- Produktgenerationen klar abgrenzen: Wenn „Gen 4“ gewünscht ist, dann durchgängig festlegen – inklusive Übergangslösungen (ob erlaubt, in welchem Zeitraum, mit welchen Nachrüstpflichten).
- Bilder und Anlagen sauber zuordnen: Jede Abbildung gehört zu einer klar bezeichneten Variante. Mischbilder ohne Zuordnung stiften Verwirrung.
- Verhandlungsprotokolle synchronisieren: Was im Rahmen von Verhandlungsrunden besprochen wird (z.B. Übergang), muss sich sichtbar in den Unterlagen wiederfinden.
- Bieterfragen nutzen: Unklare Punkte vorher aufnehmen, beantworten und in die Unterlagen einarbeiten.
- Folgen bedenken: Rückversetzungen kosten Zeit und Akzeptanz. Prävention durch saubere Unterlagen ist effizienter.
Fazit
Das BayObLG setzt ein deutliches Signal: Inhaltliche Unschärfen im Angebot lassen sich nicht „wegklären“. Fehlt es an Eindeutigkeit – und tragen die Vergabeunterlagen dazu bei – ist eine Rückversetzung die saubere Lösung. Das schützt Chancengleichheit, bremst aber den Prozess. Wer Vergaben stabil halten will, sorgt für klare Vorgaben; wer Angebote durchbekommen will, liefert widerspruchsfreie Unterlagen.
Die OptiSo-Vergabestelle unterstützt gerne
Das Aufstellen und Formulieren von Leistungsverzeichnissen, die inhaltlich so erschöpfend bestimmt sind, dass es nicht zu solchen Unklarheiten im laufenden Verfahren kommt, ist – insbesondere im Bereich der Liefer- und Dienstleistungen – ein sehr zeitintensiver und umfassender Prozess.
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