Mit Wirkung zum 1. Januar 2026 erfährt das kommunale Vergaberecht in Nordrhein-Westfalen einen grundlegenden Wandel. Der neue § 75a Gemeindeordnung des Landes Nordrhein-Westfalen (GO NRW) hebt sämtliche landesrechtlichen Wertgrenzen auf und ersetzt die bisher verpflichtende Anwendung der Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) und der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB/A (Abschnitt 1)) durch einen allgemeinen Grundsatzrahmen. Kommunen müssen ihre Vergaben künftig allein an den Prinzipien Wirtschaftlichkeit, Effizienz, Sparsamkeit, Transparenz und Gleichbehandlung ausrichten. Damit entfällt die bisherige Bindung an bundesrechtlich vorgegebene Detailregelungen – ein Paradigmenwechsel mit weitreichenden Folgen.
Der neue § 75a GO NRW im Wortlaut
§ 75a Allgemeine Vergabegrundsätze
(1) Die Gemeinde hat die Vergabe von öffentlichen Aufträgen vorbehaltlich anderweitiger Rechtsvorschriften wirtschaftlich, effizient und sparsam unter Beachtung der Grundsätze von Gleichbehandlung und Transparenz zu gestalten. Dies gilt auch bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen, deren geschätzter Auftrags- oder Vertragswert ohne Umsatzsteuer unterhalb der jeweils geltenden Schwellenwerte nach § 106 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S. 1750, 3245) in der jeweils geltenden Fassung liegt. Die Geltung höherrangiger Vorschriften sowie der Vorschriften für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen, deren geschätzter Auftrags- oder Vertragswert die in Satz 2 genannten Schwellenwerte erreicht, bleibt unberührt.
(2) Die Gemeinde darf Regelungen, die die Durchführung von Vergaben einschränken, nur durch den Beschluss einer Satzung erlassen.
Die Vorschrift verpflichtet Gemeinden, ihre Vergaben unterhalb der EU-Schwellenwerte nach den genannten Grundprinzipien durchzuführen. Weitergehende Regelungen dürfen nur noch per Satzungsbeschluss getroffen werden. Das bedeutet: Alle bestehenden kommunalen Vergabevorschriften – einschließlich der bisherigen Vorgaben der Kommunalen Haushaltsverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen (KommHVO NRW) – treten außer Kraft.
Kommunen müssen künftig selbst festlegen, ob und in welchem Umfang sie das bisherige Vergaberegime fortführen. Damit verschiebt sich die Verantwortung vom Land auf die kommunale Ebene. Jede Kommune entscheidet, ob sie ein eigenes Satzungsrecht schafft oder die Freiheit des offenen Grundsatzrahmens nutzt.
Ziele und Konsequenzen der Neuregelung
Der Gesetzgeber verfolgt hierbei zwei zentrale Ziele:
- Bürokratieabbau – die Befreiung der Kommunen von kleinteiligen Verfahrensvorgaben.
- Stärkung der Selbstverwaltung – die kommunalen Räte sollen bewusst über ihr Vergaberecht entscheiden.
Die Kehrseite: Kommunen, die keine Satzung erlassen, verlieren jede konkrete Handlungsgrundlage. UVgO und VOB/A dürfen dann nicht mehr angewendet werden, selbst nicht freiwillig. Damit entsteht ein rechtliches Vakuum, das erhebliche Unsicherheiten birgt.
Die Mustersatzung der kommunalen Spitzenverbände
Um Orientierung zu geben, haben Städtetag, Landkreistag und Städte- und Gemeindebund NRW eine Mustersatzung erarbeitet (vorgestellt im September 2025). Sie ist kein verbindliches Modell, sondern ein Baukasten: Kommunen können sie übernehmen, anpassen oder durch eigene Regelungen ersetzen.
Die Mustersatzung orientiert sich in Sprache und Aufbau an UVgO und VOB/A, überführt aber deren Systematik in ein schlankeres, flexibleres Konzept. Ziel ist, den Verwaltungen ein vertrautes Regelwerk zu geben, ohne die neue Freiheit zu beschneiden.
Wesentliche Inhalte der Mustersatzung
- Anwendungsbereich und Begriffe: Die Mustersatzung übernimmt die bekannten Definitionen von Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträgen. Neu ist, dass Eigenbetriebe und kommunale Unternehmen ausdrücklich ausgenommen sind. Damit folgt sie der Logik des § 75a, der nur für kommunale Vergaben im engeren Sinne gilt.
- Vergabearten: Die Satzung nennt weiterhin die bekannten Verfahren – öffentliche und beschränkte Ausschreibung, Verhandlungsvergabe und Direktauftrag – verzichtet aber auf eine feste Rangfolge. Jede Kommune kann das Verfahren frei wählen. Damit entfällt der Vorrang der öffentlichen Ausschreibung, was mehr Flexibilität, aber auch mehr Ermessensspielraum bedeutet.
- Wertgrenzen und Direktvergaben: Landeseinheitliche Wertgrenzen existieren künftig nicht mehr. Die Höhe etwaiger Grenzen für Direktvergaben müssen Kommunen selbst politisch festlegen. Das führt zwangsläufig zu uneinheitlichen Regelungen im Land.
- Dokumentationspflichten: Statt detaillierter Vorgaben enthält die Mustersatzung nur eine Generalklausel zur „fortlaufenden Dokumentation in Textform“. Das reduziert Bürokratie, kann aber Unsicherheiten über den Umfang der Nachweise schaffen.
- Eignung und Ausschluss: Bei Eignungsanforderungen verweist die Satzung auf die §§ 123 f. des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Eigenerklärungen reichen grundsätzlich aus; Nachweise dürfen nur von aussichtsreichen Bietern verlangt werden. Das vereinfacht Verfahren, schwächt aber die Prüftiefe.
- Zuschlagskriterien: Der Zuschlag erfolgt auf das wirtschaftlichste Angebot unter Berücksichtigung von Preis, Qualität und Nachhaltigkeit. Gewichtung und Bewertungsmethoden liegen vollständig im Ermessen der Kommune.
- Fristen und Transparenz: Auch Fristen werden nur noch als „angemessen“ bezeichnet, feste Vorgaben entfallen. Das Verfahren wird dadurch flexibler, aber weniger standardisiert.
Bewertung der Mustersatzung
Die Mustersatzung ist keine Fortführung der UVgO oder VOB/A, sondern ein eigenständiges Instrument. Sie wahrt vertraute Strukturen, ersetzt aber detaillierte Vorschriften durch Generalklauseln und Ermessensspielräume. Dadurch entstehen neue Gestaltungsmöglichkeiten – aber auch Risiken, insbesondere im Hinblick auf Transparenz, Gleichbehandlung und Nachprüfbarkeit.
Ob die Mustersatzung tatsächlich Bürokratie abbaut oder neue Unsicherheiten schafft, wird erst die Praxis zeigen. Klar ist: Kommunen müssen aktiver gestalten und Verantwortung übernehmen.
Praktische Herausforderungen
Zum 1. Januar 2026 müssen alle Kommunen handlungsfähig sein. Viele Räte konstituieren sich jedoch erst im Herbst 2025 – zu spät, um rechtzeitig eine Satzung zu verabschieden. Bleibt ein Beschluss aus, gilt ab Jahresbeginn ausschließlich der abstrakte Grundsatzrahmen.
Das bedeutet: Keine verbindlichen Verfahren, keine Wertgrenzen, keine klaren Dokumentationspflichten. Die Verwaltung muss dann in jedem Einzelfall selbst bestimmen, wie die Grundsätze von Transparenz und Gleichbehandlung zu gewährleisten sind. Fehler können leicht zu Rechtsverstößen führen.
Übergangsstrategien
Kommunen, die bis Jahresende keine Satzung beschließen können, sollten dennoch strukturiert vorgehen:
- Dokumentation: Jede Vergabeentscheidung sollte begründet werden – insbesondere dahingehend, wie sie die Grundsätze des § 75a wahrt.
- Faktische Orientierung: Eine praktische Anlehnung an UVgO und VOB/A ist zulässig, solange klar bleibt, dass sie keine Rechtswirkung entfalten.
- Schnelle Übernahme der Mustersatzung: Kommunen können die Mustersatzung zunächst als Interimslösung beschließen und später anpassen. So lässt sich kurzfristig Rechtssicherheit schaffen.
Langfristig eröffnet der Wegfall der alten Ordnungen die Chance, Vergaben kommunalspezifischer und digitaler zu gestalten – etwa durch vereinfachte E-Vergabeverfahren oder integrierte Nachhaltigkeitskriterien.
Handlungsoptionen und Empfehlungen
- Bestandsaufnahme: Prüfen, welche internen Regelungen (Richtlinien, Dienstanweisungen) auf UVgO oder VOB/A verweisen – sie verlieren zum 1. Januar 2026 ihre Geltung.
- Entscheidungsvorbereitung: Politik und Verwaltung sollten frühzeitig klären, ob eine eigene Satzung gewünscht ist.
- Mustersatzung prüfen: Die Mustersatzung kann als Grundlage dienen, sollte aber an kommunale Besonderheiten angepasst werden (z. B. zentrale Vergabestelle, Nachhaltigkeitsziele).
- Schulungen und Übergangsplanung: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen auf den neuen Rechtsrahmen vorbereitet werden.
- Rechtsaufsicht einbinden: Frühzeitige Abstimmung mit der Kommunalaufsicht kann spätere Beanstandungen vermeiden.
Fazit
Der neue § 75a GO NRW markiert einen Systemwechsel: von einem detailliert regulierten Vergaberecht zu einem offenen Ordnungsrahmen kommunaler Selbstverantwortung. Er bietet Chancen für mehr Effizienz und Eigenständigkeit, birgt aber erhebliche Rechtsunsicherheiten.
Die Mustersatzung der kommunalen Spitzenverbände schafft Orientierung, ersetzt aber keine politische Entscheidung. Wer sie übernimmt, erhält ein praktikables, wenn auch noch unerprobtes Instrument. Wer untätig bleibt, riskiert Chaos und Intransparenz.
Kommunen sollten deshalb jetzt handeln:
- Satzungsentwürfe vorbereiten,
- Entscheidungsprozesse beschleunigen
- und ihre Verwaltungen auf die neue Rechtslage einstellen.
Nur so lässt sich der Übergang zum 1. Januar 2026 rechtssicher und geordnet gestalten.
Die OptiSo-Vergabestelle hilft auch Ihnen weiter
Es bahnt sich somit im flächenmäßig viertgrößten deutschen Bundesland eine neue „Zeit“ an. Wenn Sie Unterstützung bei der auch zukünftig rechtssicheren Durchführung von Vergabeverfahren benötigen, kontaktieren Sie uns gerne per Mail an vergabestelle@optiso-consult.de oder per Telefon (0176 45921673).
Wir helfen Ihnen gerne, Ihre Projekte rechtssicher, transparent und diskriminierungsfrei auszuschreiben.