Allgemein Querschnittsthemen
Voraussichtliche Lesezeit: 5 Minuten

HOAI-Mindestsatz: Was sagt der EuGH?

Der Europäische Gerichtshof entschied kürzlich, dass Mindestsatzklagen gegen die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) dem Unionsrecht nicht entgegenstehen (Urt. v. 18.01.2022, Rs. C-261/20). Zur Begründung hieß es, dass weder die Dienstleistungsrichtlinie noch sein früheres Vertragsverletzungsurteil mit der Anwendung des verbindlichen Preisrahmens der HOAI kollidierten.

Hintergrund des Urteils ist, dass seit 1976 für Leistungen der Architekten und Ingenieuren der verbindliche Preisrahmen aus Mindest- und Höchstsatz nach der entsprechenden Fassung der HOAI gilt. Vergütungsvereinbarungen außerhalb dieses Rahmens waren dagegen nichtig, da in einem solchen Fall ein Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot vorlag. Deshalb galt stattdessen der objektiv zutreffende ermittelte Mindest- bzw. Höchstsatz. Dies hatte jedoch zahlreiche sog. „Aufstockungsklagen“ zur Folge, mit denen die Planer abweichend vom Vertrag den höheren Mindestsatz geltend gemacht haben.

Deshalb stellte der EuGH am 14. Juli 2019 in einem von der EU-Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren (Az.: C-377/17) fest, dass der verbindliche Preisrahmen der HOAI gegen die Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG verstößt. Der harte Preisrahmen wurde seitens des nationalen Gesetz- und Verordnungsgebers für Architekten- und Ingenieurverträge, die nach dem 01. Januar 2021 geschlossen werden, mit der HOAI 2021 abgeschafft.

Jedoch war bis zuletzt umstritten, was im Anwendungsbereich der HOAI 2013 bzw. ihrer Vorgängerfassungen gilt. Aus diesem Grund rief der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Aufstockungsverfahren am 14. Mai 2020 (Az.: VII ZR 174/19) erneut beim EuGH an.

EuGH stärkt nationales Recht

Im Juli 2021 unterbreitete der Generalanwalt Szpunar dem EuGH den Vorschlag, die Vorabentscheidungsfragen des BGH dahingehend zu beantworten, dass mit Ablauf der Umsetzungsfrist der Dienstleistungsrichtlinie das gesetzliche Verbot aus § 7 Abs. 1 HOAI 2013 nicht mehr angewendet werden dürfe, da die Richtlinie auch zwischen Privaten unmittelbare Anwendung entfalte.

Der EuGH erteilte dem nunmehr eine Absage. Es gelte der Grundsatz, dass sich eine Richtlinie der Europäischen Union, anders als die in nur wenigen Fällen zulässige Verordnung, nur an den Mitgliedsstaat richte und dem Einzelnen keine Verpflichtungen auferlegen könne. Seine in zahlreichen früheren Verfahren aufgestellten Ausnahmen finden in den Urteilsgründen demgegenüber keine Erwähnung.

Auch das Vertragsverletzungsurteil richte sich an die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedsstaat und diene nicht der Verleihung von Rechten an Einzelne. Schließlich sei darauf hinzuweisem, dass die durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigte Partei Schadensersatz von dem Mitgliedsstaat verlangen könne. Der EuGH mindert somit die Bedeutung des Unionsrechts und auch seine Rechtsprechung im Verhältnis zum nationalen Recht deutlich. Die Gesetzgeber der Mitgliedsstaaten sind zumindest für Rechtsbeziehungen zwischen Privaten berufen, Unionsrechtsverletzungen abzustellen – nicht die Gerichte und sonstige Rechtsanwender. Zudem versucht der EuGH offenbar, die mitunter verschwimmende Unterscheidbarkeit zwischen Richtlinien und Verordnungen wieder stärker zu betonen.

EuGH erwähnt seine Ausnahmen nicht

Die Ausnahmen von dem Verbot der horizontalen Anwendung von Richtlinien, die der EuGH entwickelt hat, finden dabei allerdings keine Erwähnung. Dies ist insofern verwunderlich, als dass diese Richtlinie die im primären Unionsrecht (Art. 49 AEUV) als Teil der Grundfreiheiten verankerte Niederlassungsfreiheit konkretisiert.

Früher hieß es seitens des EuGH, dass eine solche Konkretisierung durchaus zu einer unmittelbaren Anwendung zwischen Privaten führen könne. Der Gerichtshof hat entsprechende Vorlagefragen des BGH als unzulässig abgelehnt – es seien keine grenzüberschreitenden Sachverhalte vorgetragen worden. Der EuGH vermeidet eine Klarstellung, ob die Mindest- und Höchstsätze der HOAI nicht nur gegen die Dienstleistungsrichtlinie, sondern auch gegen die durch sie konkretisierte Niederlassungsfreiheit selbst verstoßen.

Des Weiteren wird der Versuch unternommen, die Verantwortung wieder auf die nationalen Gerichte zu verlagern. Laut EuGH könnten diese – sowie jede zuständige nationale Verwaltungsbehörde – unbeschadet des Unionsrechts die Anwendung jeder Bestimmung des nationalen Rechts, die gegen eine Bestimmung des Unionsrechts ohne unmittelbare Wirkung verstoße, aufgrund des innerstaatlichen Rechts ausschließen. Der BGH hat seinerseits die unionsrechtskonforme Auslegung des § 7 HOAI im Vorlagebeschluss kategorisch ausgeschlossen – dies wird er sicherlich auch im nun anstehenden Revisionsurteil tun.

Hunderte Aufstockungsklagen müssen nun entschieden werden

Der klagende Ingenieur kann abweichend vom Vertrag den Mindestsatz verlangen, die Revision des Auftraggebers wird zurückzuweisen sein – das dürfte nach den erfolgten Äußerungen des EuGH hinsichtlich des Verfahrens vor dem BGH klar sein. Es werden nun hunderte Aufstockungsklagen folgen, über die es künftig zu befinden gelten wird. Dies betrifft alle bis zum Inkrafttreten der HOAI 2021 am 01. Januar 2021 geschlossenen Architekten- und Ingenieurverträge und damit auch alle bis dahin geltenden Fassungen der HOAI.

Streng genommen ist im entsprechenden Zeitraum auch der Höchstsatz weiter verbindlich, dieser hatte jedoch ohnehin nie viel Praxisrelevanz. Auftraggeber sollten sich nicht auf einfache Schadensersatzklagen gegen den Staat einstellen. Denn es ist umstritten, ob als Schaden tatsächlich der Unterschied zwischen vereinbartem Honorar und Mindestsatz nach HOAI oder – was wahrscheinlicher ist – lediglich frustriert aufgewandte Prozesskosten in Betracht kommen.

Jedoch muss die Rechtslage bei öffentlichen Auftraggebern differenziert betrachtet werden. Diese durften das Preisrecht nach dem Vertragsverletzungsurteil nicht mehr anwenden – weder durch Ausschluss eines unter den Mindestsätzen liegenden Angebots von Planenden im Vergabeverfahren noch durch Berufung auf eine Höchstsatzüberschreitung durch das vereinbarte Honorar. Dennoch sollten Aufstockungsklagen gegen die öffentliche Hand weiterhin möglich sein, da sich in diesen Fällen der Bürger nicht gegenüber dem untätigen Staat im Unter-/Überordnungsverhältnis auf den Unionsrechtsverstoß beruft (sog. Vertikale unmittelbare Wirkung), sondern auf das auch in diesem Verhältnis weiter anwendbare nationale Recht der HOAI.